Ladies first

Über emanzipierte Frauen und verunsicherte Männer

Knigge – Mit Anstand am besten! Mein Name ist Birte Steinkamp und heute dreht sich alles um die Frage:
"Gibt es noch 'Ladies first'"?


„Darf ich Ihnen in den Mantel helfen?“ sprach er, nahm ihn vom Kleiderbügel, stellte sich hinter mich und reichte mir den Mantel so gekonnt, dass ich elegant und unfallfrei hineinschlüpfen konnte. Selbst die Zeit, meine Handtasche während dieses Aktes einmal in meinen Händen zu wechseln, gab er mir – wohlwissend, dass ein Herr der Dame nicht einfach so die Handtasche entreißt. So geschehen vor wenigen Wochen in einem Hotel, in dem ich zu einem Dinner eingeladen war. Innerlich hab ich vor Begeisterung getanzt, äußerlich habe ich mir natürlich nicht anmerken lassen, dass ich von dieser heute eher seltenen Geste fast überrascht und enorm beeindruckt war.

Aber ist das nicht auch irgendwie antiquiert? Altbacken? Übertrieben? Schließlich können wir Damen unseren Mantel auch ganz alleine anziehen. Wir sind schon groß! Wir können selbst die Tür öffnen und sogar ganz allein ohne Händchenhalten in ein Auto einsteigen. Oder ist all das doch immer noch „in“?

Ist 'Ladies first' noch in oder kann das weg?

Ich möchte Ihnen in diesem Blog sowohl die allgemein gültigen Empfehlungen verraten als auch meine eigene Meinung. Denn wieviel Nähe oder Hilfe Sie zulassen oder anbieten möchten, ist eine höchst individuelle Entscheidung. Nur weil „man“ etwas so macht, heißt das nicht, dass es jede und jeder mag und zu schätzen weiß, oder es nur Ihnen zuliebe über sich ergehen lässt. Schalten Sie Ihre Empfangsantennen einmal mehr für das gewisse Feingefühl ganz empfindlich ein – denn gerade beim Thema „Ladies first“ und all den traditionellen Gesten zwischen Mann und Frau brauchen Sie sie heutzutage ganz besonders! Und zwar sowohl als aktiver als auch als passiver Part. Denn es gibt immer einen (meist den Mann), der die Geste anbietet und eine (meist die Frau), die die Geste annimmt oder eben ausschlägt.

Die große Frage, die hinter dem „Gibt es noch Ladies first“ steckt, ist gar nicht , was die offizielle Etikette dazu sagt. Vielmehr steckt dahinter, ob sich Emanzipation und Höflichkeit in unserem modernen, selbstbestimmten Miteinander widersprechen. Darf ich mir, wenn ich mich als emanzipierte Frau bezeichne, überhaupt die Autotür aufhalten lassen? Oder zeige ich damit sogar Schwäche? Für mich ist die Antwort darauf klar: Nein! Ich zeige keine Schwäche! Aber noch einmal einen Schritt zurück:

Die Tatsache, dass wir überhaupt die Frage stellen – und sie wird mir immer häufiger gestellt – ob es „Ladies first“ überhaupt noch gibt, zeigt sehr deutlich, dass wir uns in einem ständigen Wandel und einer ständigen Entwicklung befinden, was unser gutes Benehmen und die gute Sitte betrifft.

Gutes Benehmen wandelt sich - und wir uns gleich mit

Drei dafür elementar verantwortliche Themen sind die Globalisierung, die Digitalisierung und eben die Emanzipation.

 

Die Globalisierung bedeutet für unseren Umgang miteinander: Wertevorstellungen und Gewohnheiten verschiedener Länder und Kulturen schwappen über die Grenzen, sind nicht mehr so fern und unbekannt und werden teils in unsere mitteleuropäische Art und Lebensweise übernommen. Wie argumentieren denn zum Beispiel die Pauschal-Duzer die Überflüssigkeit des „Sie“? Genau: Mit dem englischen you. „Die brauchen das ja auch nicht“, heißt es dann. Und zack, sind wir deutschen verunsichert. Verunsichert sind wir auch beim Pizzaessen. Aber hier gibt es ein besonderes, kulturell belegbares Argument, künftig das Besteck einfach mal wegzulassen: Die original neapolitanische Art, eine Pizza zu essen, ist nämlich, sie zwei Mal zu falten und dann diese vierlagige Pizza mit all ihren Aromen direkt aus der Hand zu genießen. Das verrät Enzo Coccia 2019 in einem Interview für den Stern. Seitdem diese Info mehr und mehr durchsickert, sieht man auch immer mal wieder Menschen im Restaurant, wie sie ihre Pizza falten oder vierteln und mit der Hand in den Mund balancieren. Warum auch nicht? Wenn’s der Profi aus Neapel sagt?! Gutes Benehmen wandelt sich und wir uns gleich mit.

Mit der Digitalisierung wurde und wird unser Leben immer schneller. Ich habe schon in meinem letzten Blog über Anstand 2.0 darüber gesprochen: Wir kaufen Coffee to go, anstatt uns die Zeit für einen Cafébesuch zu nehmen, um dann am Abend mit der extra Yogastunde unsere Work-Life-Balance wieder zu retten. (Was wir wahrscheinlich nicht bräuchten, wenn wir den Kaffee gemütlich im Sitzen, anstatt im Laufen getrunken hätten.) Wieviel Zeit hätten wir verloren? Eine viertel Stunde? Eine halbe? Jede effektive Yogaeinheit dauert definitiv länger! Außerdem weckt die Digitalisierung eine ganz neue Erwartungshaltung. Unsere 24/7-Erreichbarkeit macht das Leben zwar mobiler, aber eben auch viel stressiger. Erinnern Sie sich daran, was ich zu den zwei blauen WhatsApp-Häkchen gesagt hab. Das Thema der letzten Folge und dieses heute haben nämlich so einige Gemeinsamkeiten. (Hier geht's zum Podcast)

'Ladies first' - das No Go im Business

Und schlussendlich – und nun komme ich zurück zum eigentlichen Thema dieses Blogs – stellt uns die Emanzipation so manches Bein in Sachen „guter Umgang miteinander“. Warum? Weil die Herren der Schöpfung unsicher sind. Wir Frauen weniger, wir haben’s ja in der Hand. Aber Sie, Sie anständiger Herr da draußen, mal Hand aufs Herz: Wie oft denken Sie „Ist das wohl jetzt in Ordnung? Oder findet sie das albern, wenn ich ihr die Tür aufhalte oder wenn ich ihr den Vortritt lasse oder wenn ich das Essen bezahle?“


Und Sie als Dame: „Wollen Sie das? Den armen Mann so zu verunsichern?“ Wahrscheinlich nicht (bewusst). Aber es ist kompliziert. Zumindest im Privaten, denn im Business ist das alles ganz klar geregelt: Da gibt es kein Ladies first! Da geht es rein nach Rang: Der Ranghöhere hat den Vortritt, das erste, lauteste oder auch letzte Wort, darf sich den schönsten Platz aussuchen und bekäme sogar den Mantel gereicht. Wenn, ja wenn es da nicht die Hürde mit dem Feingefühl gäbe. Denn mal ehrlich: Wenn nun die 25-jährige Assistentin ihrem 40-jährigen Vorgesetzten plötzlich in den Mantel helfen will, ist das irgendwie merkwürdig. Das fühlt sich für beide ungewohnt und vielleicht sogar nach Rollentausch an. Auch, wenn es unter hierarchischen Gesichtspunkten korrekt wäre, werden wir das so wohl nicht erleben. Es sei denn, der Vorgesetzte ist durch gleich zwei gebrochene Arme gehandicapt.

 

Umgekehrt gibt es das aber schon: Die klassische Knigge-Regel einfach mal ignoriert oder gar nicht erst gekannt, greift der Vorgesetzte zum Mantel seiner Assistentin und ruckzuck ist das schon wieder eine höfliche Geste! Zumindest hoffe ich persönlich sehr, dass die Assistentin in diesem Moment die höflich gemeinte Ambition hinter der Geste erkennt und vor allem annimmt. Das Schlimmste, was passieren könnte wäre, wenn sie nun sagen würde „Das kann ich schon selbst!“ und ihm ihren Mantel aus der Hand nimmt. Naja, ich möchte das relativieren. Es wäre nicht wirklich schlimm, aber äußerst ungeschickt. Ist doch der Herr nun in seiner zuvorkommenden Ehre gekränkt. Kurzum: Lassen Sie im Business einfach immer den oder die Ranghöhere entscheiden und ergreifen Sie nicht selbst die Initiative.

'Ladies first' im Privaten

Eine höflich gemeinte Geste abzulehnen, ist aber auch im privaten Umfeld ein zwischenmenschlicher Fauxpas. Denn wir sollten alle versuchen, jedem Menschen ganz offen, neutral und ohne Hintergedanken eine positive Absicht zu unterstellen. Versuchen Sie doch einmal in dem, was jemand zu Ihnen sagt oder dem, was jemand tut, etwas Gutes zu sehen. Wenn Ihnen zum Beispiel jemand sagt „Du hast Dich aber schon lange nicht mehr gemeldet“, dann mag das oberflächlich betrachtet und auf den ersten Blick wie ein Vorwurf klingen. Was aber dahinter stecken könnte wäre ein „Ich hab Dich vermisst“ oder „Ich freue mich, endlich wieder was von Dir zu hören.“ Und das ist etwas durchweg Positives. Etwas Schönes! Wir nehmen uns leider viel zu wenig Zeit, positive Absichten zu erkennen, weil wir oft einfach zu sehr mit unserer eigenen Stimmung und unserem eigene Gemüt just in dieser Situation beschäftigt sind. Wir haben es vielleicht sogar etwas verlernt. Aber wenn Sie genau zuhören und hinschauen, wenn Sie sich Mühe geben, empathisch zu sein, dann erkennen Sie auch das Gefühl, das hinter einem solchen Satz liegt. Und genau so verhält es sich mit vielen vermeintlich antiquierten Gesten wie Mantel anreichen, Tür aufhalten oder Stuhl zurechtrücken. Männer möchten uns Frauen damit nicht degradieren oder bevormunden. Sie unterstellen uns damit auch nicht, dass wir es nicht selbst könnten. Sie meinen es zuvorkommend und nett. Und hey, es sind Gesten der Aufmerksamkeit! Das kann doch nichts Schlechtes sein!

Ja, es gibt noch „Ladies first“! Unter Freunden, Bekannten, der Familie, im privaten Raum gibt es „Ladies first“. Und jeder Lady unter Ihnen, die auf solche Gesten der Männer eher allergisch reagiert oder sich untergebuttert fühlt, der möchte ich sagen: Nehmen Sie diese Gesten an! Damit untergraben Sie keineswegs Ihre emanzipierte Haltung oder Ihr emanzipiertes Auftreten. Eher im Gegenteil: Überlegen Sie einmal, wie Sie wirken möchten! Gerade vor dem Hintergrund der Emanzipation möchten Sie doch stark wirken, selbstbewusst, aufrecht, selbstbestimmt, sicher und souverän. Wenn Sie einer solchen Geste aber nun  mit diesem „Lass mal, das kann ich schon selber!“ begegnen – eventuell sogar mit ablehnender Körperhaltung und einem leicht arroganten Unterton, der sofort entlarvt, dass Sie sich angegriffen fühlen, dann wirken Sie nicht stark, aufrecht und souverän: Sie wirken einfach nur zickig! Und beleidigt. Und bissig. Und den guten Willen des Mannes, Ihnen je wieder in einer solch aufmerksamen, zuvorkommenden Weise zu begegnen, haben Sie gekillt. Kein Wunder, dass die Männer nicht mehr wissen, wie sie mit uns umgehen sollen und bei welchem Exemplar von uns nun Aufrichtigkeit gewünscht ist und bei welchem sie eine verbale Ohrfeige kassieren. Nur Mut, Sie anständigen Männer, geben Sie bitte nicht auf!

'Ladies first' - oder 'Die Dame als vorgehaltenes Schutzschild'

Aber woher kommt denn dieses "Ladies first" eigentlich? Eine überlieferte Version besagt, dass an früheren Rettungsbooten „Ladies and Children first“ stand, wovon nur noch das „Ladies first“ übrig geblieben ist. Und das „Frauen und Kinder zuerst“-Prinzip gibt es schließlich heute auch noch.

 

Eine andere Herleitung besagt, dass man im gefährlichen Mittelalter eine Person vorschickte, um Gefahren zu erkennen. Zum Beispiel beim Betreten eines Raumes. Da männliche Erbfolgen um einiges wertvoller waren als die weiblichen, hat man angeblich die Damen vorgeschickt. Eine gruselige Vorstellung, wie ich finde, aus der sich aber der Vortritt der Dame ableiten ließe.

 

Und wieder eine andere, sogar gegenteilige Version besagt, dass die Frauen einfach seit jeher schwächer und damit beschützenswert sind. Darum geht der Herr auf dem Bürgersteig auf der gefährlichen Straßenseite, geht die Treppe immer unterhalb der Dame, falls sie fällt und betritt zuerst das Restaurant, falls sich hinter der Tür eine Gefahr verbirgt. Was auch immer davon wahr ist, Sie sehen: Selbst "Ladies first" ist irgendwie vielfältig.

Bunt, bunter, nicht-binär

Genauso, wie auch unsere Gesellschaft. Wir waren noch nie so weit entfernt vom klassischen Paarmodell zwischen Mann und Frau wie heute. Nicht-binär nennen wir das allgemein, weil es eine nicht zu beziffernde Anzahl an Geschlechtern gibt. Neben den Hürden, die wir uns ohnehin schon selbst machen, indem wir vermeintlich höfliche Gesten als Bevormundung oder Degradierung wahrnehmen, gibt es weitere, die ein klares „Ladies first“-Reglement unmöglich machen: Es gibt gleichgeschlechtliche Paare, es gibt Beziehungen zu dritt, es gibt Männer, die sich wie Frauen fühlen, Frauen, die sich als Mann wohler fühlen, es gibt diejenigen, die das auch optisch ausdrücken und diejenigen, die auf dem Weg dorthin sind. Unsere Gesellschaft ist so vielfältig wie nie. Lassen Sie uns das genießen und lassen Sie uns besonders wieder dieses Feingefühl dafür aufleben lassen, was der oder die andere sich wünscht, was er oder sie braucht. Wir können ein schwules Pärchen schließlich nicht fragen, wer von beiden denn nun den weiblichen Part in der Beziehung hat, damit wir wissen, wem wir in den Mantel helfen. Das wäre übergriffig und oberflächlich. Aber wir können die Augen aufmachen, wahrnehmen, spüren und darauf reagieren. Wir können unsere Zuvorkommenheit als Angebot formulieren. Im besten und elegantesten Fall wird sie angenommen – von der Dame, die das auch alleine kann, von der Lesbe, die sich eigentlich viel männlicher fühlt, oder von der bigender Person, bei der sich die Geschlechtsidentitäten auch mal abwechseln.

Mein Fokus für Sie: Seien Sie nett zueinander! Bieten Sie Ihre Hilfe an, aufrichtige Gesten, rücken Sie Stühle, reichen Sie Mäntel, halten Sie Türen auf – und auch Ihre Arme! Und nehmen Sie all diese Gesten auch an. Von Herzen und gerne. Lassen Sie uns nicht Gefahr laufen, Höflichkeit mit einer Anmache zu verwechseln oder jemandem vor den Kopf zu stoßen, der einfach nur aufmerksam sein möchte.

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Nachdenken über diesen Blog, beim Hören der dazugehörigen Podcastfolge, beim Ausprobieren, wer sich denn nun in den Mantel helfen lässt und dabei, all die netten Gesten auch anzunehmen – ganz egal, wer Sie sind!

Bleiben Sie anständig!


Birte Steinkamp

post@birtesteinkamp.de

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