Mehr Mut zum Ich

Ich? Ich!

Lassen Sie uns das Wörtchen „Ich“ mal wieder ein bisschen mehr feiern! Zugegeben, ich rede in meinem Podcast und schreibe in meinen Blogs häufiger davon, auch mal bescheiden zu sein, sich selbst ein bisschen zurückzunehmen und mal wieder zu schauen, wie es anderen so geht, wenn sie mit Ihnen zusammen sind, was Sie in anderen auslösen oder auslösen könnten – mit Ihrem Verhalten, mit Ihrer Art und Weise und auch mit Ihren Worten. Und davon bin ich auch nach wie vor überzeugt! Denn wenn ich sage, dass wir das Wörtchen „Ich“ mal wieder feiern sollten, ist das keine Einladung zu maßlosem Egoismus und "Nach mir die Sintflut-Denken". Es ist die Aufforderung zu einer bewussteren und konkreteren Sprache und sogar die Einladung, etwas über sich selbst zu lernen.

Es geht um Wissenschaft, um Kommunikationsexpertise und um meine Erfahrung aus meinem Alltag als Trainerin für Business-Etikette und Coach. Dabei betrachte ich zwei Aspekte, bei denen wir das Wort „Ich“ sinnvoller einsetzen und vor allem feiern sollten: Die klassischen Ich-Botschaften in der Kommunikation mit anderen und auch darum, das Wort „Ich“ für sich selbst, also in der Kommunikation mit sich selbst, aufmerksamer einzusetzen.

Ich-Botschaften

Starten wir mit den Ich-Botschaften. Davon haben Sie sicher schon einmal gehört. Der amerikanische Psychologe Thomas Gordon hat diesen Begriff „Ich-Botschaft“ bereits in den 70er Jahren geprägt. Heute werden sie von nahezu allen Kommunikationsexperten empfohlen, um nicht provokant, sondern vielmehr konstruktiv zu kommunizieren. Oberflächlich betrachtet hieße das, die Feststellung „Du bist schon wieder nicht pünktlich!“ umzuformulieren in „Ich finde es blöd, dass Du schon wieder nicht pünktlich bist“. Ich denke, Sie merken auch sofort, dass der Satz so formuliert nicht wirklich an Schärfe oder Kritik verliert. Einer Kritik oder einem Vorwurf einfach nur ein „Ich finde, ...“, „Ich denke, ...“ oder „Ich bin der Meinung, dass ..." vorwegzusetzen, ändert nicht viel an der eigentlichen Aussage und auch nichts an ihrer Wirkung. Das ist ein sehr häufiges Missverständnis, wenn von Ich-Botschaften die Rede ist.

 

Es ist zwar schon mal ein Anfang, nicht mit „Du bist so und so“ anzufangen, sondern mit „Ich finde, dass Du so und so bist“, aber Thomas Gordon hatte noch viel Tieferes im Sinn: Es ging ihm um den Aspekt der Selbstoffenbarung, also nicht darum, einfach ein „Ich“ vor eine Aussage zu setzen, sondern darum, durch eine andere, neue Formulierung

1. Den eigenen persönlichen Eindruck wiederzugeben,

2. zu erklären, was das Verhalten des anderen bei einem selbst auslöst und

3. den anderen nicht in die Defensive oder gar in die Verteidigung oder Rechtfertigung zu drängen.

 

Das klingt alles ganz schön kompliziert und so, als müsstesn Sie erst einmal fünf Minuten nachdenken, bevor Sie etwas sagen. Auch, weil wir damit von dem im Business wichtigen und gern gesehenen Fokus aufs Sachliche umschwenken auf einen emotionalen Fokus. Besonders für Chefs und Führungskräfte ist das gar nicht so einfach und äußerst ungewohnt. Außerdem müssen wir ja auch erst einmal herausfinden, was nun 1. unser persönlicher Eindruck ist und was das Verhalten – unpünktlich sein – 2. bei uns auslöst. Klingen könnte das so: “Man. Ich habe hier eine halbe Stunde auf dich gewartet und mich total geärgert, weil ich viel zu tun habe. Ich fühle mich ehrlich gesagt überhaupt nicht ernstgenommen, wenn du unsere Termine nicht einhältst.“ Während Sie auf die erste, sparsame Ich-Botschaft „Ich finde es blöd, dass Du schon wieder nicht pünktlich bist“ wahrscheinlich eine eher patzige Antwort wie „Man, ich hab mich ja schon beeilt!“ bekommen würden, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie auf Ihre ausführliche Ich-Botschaft eine konstruktive und vor allem lösungsorientierte Antwort bekommen wie zum Beispiel „Oh je, das tut mir wirklich leid. Ich hab es einfach nicht eher geschafft. Das nächste Mal bin ich pünktlich!“ Die Gesprächsebene ist sofort eine andere. Dialog statt Eskalation

Ich-Botschaften zur Deeskalation

Auch privat gibt es so einige Beispiele, wie zwar versucht wird, eine Ich-Botschaft zu senden, weil wir das mal irgendwo so aufgeschnappt haben. Wenn das aber keine „echt“ nach Gordon ist, sondern nur eine geschummelte, dann kann das nach hinten losgehen und sogar Streit provozieren, statt Unmut zu lindern. lesen Sie mal selbst:

Du wolltest doch Schokolade mitbringen!“
In der minimalistischen Ich-Botschaft wäre das zum Beispiel
Ich dachte, Du bringst Schokolade mit!“

Oder

Du hast schon wieder den Müll nicht rausgebracht!“
Übersetzt in die minimalistische Ich-Botschaft
Ich dachte, Du bringst den Müll raus!“

So bringt und das nicht weiter!
Zielführender wäre
„Ich bekomm doch nachher Besuch und schaff’s nicht mehr einzukaufen. Ach, schade. Jetzt kann ich nur ein paar Kekse anbieten. Dabei tischen Susi und Toni immer so großzügig auf!“ oder
„Ich hab’s mir schon auf dem Sofa bequem gemacht muss mir nun extra wieder Schuhe anziehen. Dabei bin ich wirklich müde vom Tag. Ich hatte einfach gehofft, Du würdest das gerade erledigen.“

Haben Sie also mehr Mut für Gefühle. Sagen Sie, dass und warum Sie etwas stört, dass und warum Sie etwas ärgert, nervt oder enttäuscht. Sobald Sie vom Vorwurf weggehen oder überhaupt von den Sätzen, die der oder die andere als Vorwurf verstehen könnte, kann Kommunikation das erreichen, wozu wir sie brauchen: hin zu Lösungen, weg von Problemen.

"Ich" statt "man"

Gut ist ja schon einmal, wenn wir überhaupt miteinander reden, anstatt uns in unseren Gram zu verkriechen. Dann kommt nämlich noch ein weiterer Aspekt hinzu: Unser eigenes Gedankenkarussel.

Apropos Gedankenkarussel: Das bringt mich zum zweiten Aspekt über das Wörtchen „Ich“: Ganz bewusst mehr von „Ich“ statt von „man“ zu sprechen. Immer wieder fällt mir das vor allem auf, wenn ich im Fernsehen  Straßenumfragen oder Interviews sehe. Da fragt ein Reporter in diesen Tagen die Passanten „Wie gefällt Ihnen  das heiße Wetter?“ Die Antworten lauten dann häufig „Geht so. Man kann halt nicht so gut schlafen, wenn’s so heiß ist!“ oder „Ich wohne im Dachgeschoss. Da hat man noch mal mehr zu schwitzen!“ oder Man kann ja ins Freibad gehen. Das ist dann ganz schön.“ Und ich frage mich immer: „Man? Wieso sagen die denn immer „man“?" Ich finde es  stilistisch nicht  schön und es klingt auch sehr unpersönlich.

Selbstverständlich gibt es dazu aber nicht nur meine Meinung, sondern, obwohl das Phänomen bisher wenig untersucht wurde, eine Meinung von drei Psychologen der University of Michigan. Im Fachmagazin "American Association for the Advancement of Science“ verraten sie, dass sie hinter dieser Ausdrucksweise „Man“ statt „Ich“ vermuten, dass wir versuchen, einer Aussage eine übergreifende, allgemein gültige Bedeutung zu geben. Das tun wir aber nicht immer, sondern vor allem dann, wenn wir von Negativem berichten. Wir versuchen dann unbewusst, uns emotional zu distanzieren. Ariana Orvell hat die Studie geleitet, in der zwei Personengruppen gebeten wurden, über Erlebnisse zu berichten. Die eine über neutrale Erlebnisse, die andere über negative Erlebnisse. Orwell sagt „In den Erzählungen über negative Erlebnisse verwendeten die Probanden besonders häufig „man“ statt „ich“. Es ist vergleichbar mit dem Kreieren von Normen, durch die man Erfahrungen universal macht. Wir vergewissern uns quasi, dass auch andere diese Erlebnisse haben könnten.“

"Ich" öffnet den Blick

In meinen Coachings achte ich besonders auf diese Wortwahl „man“ oder „ich“. Es ist manchmal so, dass ein bewusstes Formulieren mit „Ich“ eine Menge auslösen und lostreten kann. Da saß zum Beispiel diese eine Coachee vor mir, Führungskraft, Mitte 40, erfolgreich, die sich über einen Mann in ihrem Team ärgerte. „Mich nervt das! Man wird ständig von dem untergebuttert“! haben Sie es bemerkt? Mich nervt das, man wird ständig von dem untergebuttert. Man wird untergebuttert ist so schön allgemein und einfach eine Feststellung à la "Das ist halt so. Und anderen passiert das auch."

 

In der Kurzversion erzählt, ging es wie folgt in der Sitzung weiter: Sie hat diesen Satz „Man wird ständig von dem untergebuttert“ ganz bewusst mit „Ich“ zu formuliert: „Ich werde ständig von dem untergebuttert“. Es war enorm, was das ausgelöst hat! Das war ein wirklich extremer Moment, weil ihr plötzlich klar wurde, es geht um sie selbst und nicht um einen allgemeingültigen Zustand. Zum einen wurde ihr klar, dass es überhaupt nichts mit ihr zutun hat, ob – eventuell – auch andere untergebuttert werden. Aber vor allem machte diese andere Formulierung aus, dass sie aktiver Part dieses Erlebnisses ist und sie selbst die Macht hat, das zu ändern. Denn wo jemand unterbuttert, lässt auch jemand anderes zu, untergebuttert zu werden. Es war plötzliche eine ganz andere Perspektive, eine ganz andere Klarheit. Es war kein allgemeiner Zustand mehr im Sinne von „so ist der halt, das macht der halt“, sondern „Das macht der mit mir“ bzw. Ich lasse das mit mir machen“. Allein diese Erkenntnis setzt ungeahnte Kräfte frei, die Lösung des Problems anzupacken.

"Ich" im Alltag

Auch privat in unserem Alltag fallen immer wieder Sätze, mit denen wir uns aus der Verantwortung ziehen oder uns einfach nicht klar zu einer Aussage bekennen. „Sport, ja, das wäre schon gut. Aber man hat ja einfach keine Zeit“. Eine bewusste Umformulierung könnte lauten Ich nehme mir dafür keine Zeit“ – und plötzlich haben Sie es selbst in der Hand, das zu ändern. Oder auch „Oh nein. Jetzt hab ich Butter vergessen, einzukaufen. Manchmal ist man ja mit seinen Gedanken auch ganz woanders“ … was mich direkt zu den Fragen animieren würde „Wer ist mit seinen Gedanken ganz woanders?“ und dann „Wo sind Sie denn mit Ihren Gedanken?“ und vielleicht sogar noch weiter „Woher kommen denn diese Gedanken?“ … und plötzlich ploppt Erkenntnis um Erkenntnis auf und es geht gar nicht mehr um die vergessene Butter, sondern um die wirklich wichtigen Themen.

Eine wichtige Botschaft für Sie: Dieser Artikel kratzt nur an der Oberfläche dieses Ich-Themas! Aber vielleicht konnte ich Sie ein wenig dazu inspirieren, ganz bewusst mit „Ich“ zu formulieren“. Ich-Botschaften statt Vorwurf in der Kommunikation mit anderen und ein bewusstes „ich“ statt „man“ in der Kommunikation mit sich selbst und über sich selbst. Je bewusster Sie sich selbst sind, je mehr Sie über sich selbst erfahren und auch preisgeben, desto harmonischer verlaufen Begegnungen und desto größer ist das Potenzial, Lösungen zu erarbeiten, anstatt auf Problemen zu hocken.

Viel Freude beim Ausprobieren und bleiben Sie anständig!

Birte Steinkamp

post@birtesteinkamp.de

Jetzt den Blog als Podcast hören auf iTunes, Spotify oder AmazonMusic:


Kommentar schreiben

Kommentare: 0